Leben · Leipzig · 1740-1750 |
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Es reisete nicht leicht ein Musiker durch diesen Ort, ohne meinen Vater kennenzulernen und sich von ihm hören zu lassen.
So berichtet Carl Philipp Emanuel Bach. Der Organist und Komponist ist bekannt und geschätzt, zwar nicht beim Rektor der Thomasschule oder bei den Herren des Rates, wohl aber in der Musikszene Leipzigs. Ab 1741 übernimmt der Thomaskantor wieder sein Collegium Musicum. Mit Sicherheit leitet er das Orchester bis ins Jahr 1744, möglicherweise sogar bis 1746. Mehrmals besucht er seinen zweiten Sohn Carl Philipp Emanuel, der sich seit 1738 als Cembalist in den Diensten von Kronprinz Friedrich befindet.
Auch nach Dresden unterhält Johann Sebastian Bach als königlicher Hofkomponist gute Beziehungen. 1742 erhält er vom Reichsgraf von Keyserlingk, dem russischen Abgesandten am Dresdner Hof, einen Auftrag. Der Graf wünscht sich von Bach ein Klavierstück von "sanftem und etwas munterem Character", das ihm das Einschlafen erleichtert, sozusagen eine kleine Nachtmusik. Bach schreibt ihm eine "Aria mit verschiedenen Veraenderungen vors Clavicimbal mit 2 Manualen", die der gräfische Hauspianist Johann Gottlieb Goldberg von Keyserlingk in schlaflosen Nächten vorspielen kann. Und unter dem Namen des Pianisten und ehemaligen Bach-Schülers wird das Stück später als Goldberg-Variationen in die Geschichte eingehen. Die letzte der 30 Variationen, ein Quodlibet, enthält in der Bassstimme zwei regelrechte Gassenhauer:
Dem Grafen gefällt die aufregende Musik augenscheinlich. Er entlohnt den Komponisten fürstlich: ein silberner Pokal, gefüllt mit einhundert Louis d'or Goldstücken ist das höchste Gehalt, das Johann Sebastian Bach für eine Komposition jemals gezahlt wird.
Ein weiteres Stück, aus dem der herzliche Humor des Komponisten noch deutlicher hervortritt, ist die Bauernkantate "Mer hahn en neue Oberkeet" aus dem gleichen Jahr. Von Henrici stammt der in thüringisch gefärbtem Sächsisch geschriebene Text. Am 30. August 1742 führt Bach seine "Cantate Burlesque" auf dem Gut Klein-Zschocher südwestlich von Leipzig auf. Der Gastgeber heißt Carl Heinrich von Dieskau - kurfürstlich-sächsischer Kammerherr. Er lässt sich von seinen Untertanen zum 36. Geburtstag gratulieren. Die Handlung des Stücks passt natürlich zum Anlass: Ein Bauer und eine Bäuerin loben ihren neuen Herrn und nehmen dann den direkten Weg in die Dorfschenke.
... aber: Wahre Freude ist eine ernste Sache. Im 18. Jahrhundert rückt die Konzertmusik immer weiter ins bürgerliche Leben. Was früher nur König, Hof und Adel erfreute, findet zunehmend auch Anklang beim einfachen Volk - auch in Leipzig. Im Jahr 1743 gründen sechzehn Kaufleute den Verein "Das große Concert", aus dem später das Leipziger Gewandhausorchester hervorgehen wird. Der Verein finanziert Musiker zur Förderung der Leipziger Tonkunst und organisiert Konzerte. Am 11. März des gleichen Jahres findet die erste Aufführung statt. Bach komponiert in dieser Zeit vor allem kontrapunktische Stücke, Kanons und Fugen, deren komplizierter formaler Stil für die Ohren des Spätbarock streng und konstruiert klingt. Der große Meister der Polyphonie ist kein Vorreiter des modernen französischen oder italienischen Stils, bei dem eine Stimme im Vordergrund steht - der Cantus Firmus - und die anderen Stimmen der Begleitung dienen.
Seine Werke lässt Bach in Kupfer stechen und drucken. Für drei Taler beispielsweise kann man beim Komponisten persönlich ein Exemplar der dritten Klavierübung erwerben. Reich wird er damit nicht; die Auflagen sind klein, allerdings ist der Notenverkauf ein willkommener Zugewinn für die kinderreiche Familie.
Im Mai 1747 unternimmt der Thomaskantor wieder eine Reise nach Berlin. Sieben Jahre zuvor, 1740 besteigt Friedrich II. den Thron und Carl Philipp Emanuel wird als Kammercembalist an den Hof nach Potsdam gerufen. Der alte Fritz möchte den Vater ebenfalls kennenlernen und lädt ihn in sein gerade frisch erbautes Schloss Sanssouci ein. Als dessen Kutsche am 7. Mai am Tor vorfährt, lässt der König das laufende Konzert mit den Worten "Meine Herren, der alte Bach ist gekommen!" unterbrechen. Johann Sebastian Bach wird vorgestellt und darf auf den Pianoforti und Orgeln des Königs sein Talent unter Beweis stellen.
Friedrich der Große ist selbst an jeder Form von Kunst interessiert, spielt sehr gut Querflöte und komponiert. Er weiss also ganz genau, was er verlangt, als er den Thomaskantor bittet, eine sechstimmige Fuge nach einem von ihm vorgegebenen Thema auszuführen. Zum einen ist die Komposition schon außergewöhnlich kniffelig - selbst fünfstimmige Fugen gelten als kompliziert, zum anderen muss man das Stück ja auch mit 10 Fingern spielen können. Doch Bach schafft das voraussichtlich Unmögliche. Nach zwei Monaten ist das Werk fertig. Das musikalische Opfer ist eine Sammlung von 10 Kanons, zwei Fugen und einer Sonate, die alle auf dem königlichen Thema aufbauen. Die Fugen überschreibt Bach mit dem lateinischen Satz "Regis Iussu Cantio Et Reliqua Canonica Arte Resoluta" (Auf Geheiss des Königs, die Melodie und der Rest durch kanonische Kunst aufgelöst). Selbst bei der Auswahl des Titels hat der Komponist nichts dem Zufall überlassen. Liest man nämlich nur die Anfangsbuchstaben, ergibt sich das Wort Ricercar (ricercare: italienisch für suchen), was zugleich die Gattungsbezeichnung des betreffenden Musikstücks ist. Der Komponist lässt das Werk in Kupfer stechen und übersendet es dem König mit devotester Widmung.
Im Juni 1747 tritt Johann Sebastian Bach als 14. Mitglied der "Correspondierenden Societät der musikalischen Wissenschaften" bei. Diese musiktheoretische Gesellschaft wurde 1738 vom Bach-Schüler Lorenz Christoph Mizler gegründet. Ihre Mitglieder, Komponisten und Musiktheoretiker, verfolgen das gemeinsame Ziel, die Musikkunst durch Wort und Schrift zu fördern. Mitzler, möchte die "Musik völlig in die Gestalt einer Wissenschaft [zu] bringen, die Historie derselben [zu] untersuchen und in Ordnung [zu] setzen". Vor Bach sind der Gesellschaft bereits Georg Philipp Telemann und Georg Friedrich Händel beigetreten.
Diesem Umstand verdankt die Nachwelt das einzig verbürgte und gesicherte Bild Johann Sebastian Bachs. Die Statuten des Vereins fordern bei der Aufnahme ein Portrait - und jährlich eine theoretische und praktische Arbeit. Der Thomaskantor reicht ein vom Leipziger Honoratioren-Maler Elias Gottlob Haußmann angefertigtes Ölgemälde ein. Den sechsstimmigen Rätselkanon des musikalischen Opfers, den der Komponist dort in der Hand hält, schickt er gleich mit. Außerdem erhält Mitzler die kanonischen Veränderungen für Orgel über das Weihnachtslied "Vom Himmel hoch, da komm ich her".
Anfang 1748 erweitert Bach seine bereits 1733 begonnene Missa Brevis zur h-Moll-Messe. Den Kyrie- und Gloria-Teil schrieb er für seine Bewerbung als Hofkompositeur an den Dresdner Hof. Mit den neuen Teilen Credo, Santus und Agnus Dei wird aus der Kurzmesse ein umfangreicher, wegweisender Vokalzyklus.
Am 20. Januar 1749 ist es dem Kantor vergönnt, ein erstes und einziges Mal eine Hochzeit eines seiner Kinder zu Hause zu feiern. Seine älteste Tochter aus zweiter Ehe, Elisabeth, heiratet den Organisten der Naumburger Wenzelkirche Johann Christoph Altnickol.
Spätestens ab August 1748 zeigt sich an Bachs Handschrift, dass der 63jährige Kantor mit Augenproblemen zu kämpfen hat. Er wird langsam blind. Doch seine Kompositionskraft ist noch nicht versiegt. Er arbeitet wieder an der Kunst der Fuge, einer Sammlung von 14 Fugen und vier Kanons. Alle Fugen, mit Ausnahme der unabgeschlossenen letzten, bauen auf dem gleichen Grundthema auf, das in der ersten Fuge vorgestellt wird. Das klingende Kunstwerk kann als Essenz der ganzen Gattung betrachtet werden, es enthält alle Regeln der Konstruktionskunst.
Die letzte Fuge kann Bach wegen seines schwindenden Augenlichts nicht zu Ende komponieren, seine Linsen sind trübe, er leidet am grauen Star. Ab 1749 sind überhaupt keine Schriftstücke von ihm mehr erhalten. Seine Frau Anna Magdalena oder sein Sohn Johann Christian unterschreiben für ihn alle Dokumente. Ende März 1750 entschließt er sich zu einer Augenoperation:
theils aus Begierde, Gott und seinen Nechsten, mit seinen übrigen noch sehr munteren Seelen- und Leibeskräften, ferner zu dienen.
Ein riskanter und mutiger Schritt im 18. Jahrhundert. Es gibt keine Narkose, keine sterilen Werkzeuge, ja nicht einmal ein Krankenhaus. Bach legt sein zukünftiges Schicksal in die Hände des englischen Okulisten John Taylor, der sich im Frühjahr 1750 auf Deutschlandreise befindet. Taylor bereitet im Gasthaus "Drey Schwanen" die Operation vor. Die trübe Linse muss herausgeschnitten werden, sie wird durch eine entsprechend starke Brille ersetzt. Soweit die Theorie. Die Operation selbst ist schon eine Tortur, doch hinzu kommen medizinische Behandlungen wie Aderlass, der Verabreichung von Pflanzengiften und Abführmitteln, um die "bösen Säfte zu bekämpfen". Vom Tag der Operation muss Bach Verbände über den Augen tragen. Taylor reist inzwischen weiter nach Dresden.
Die Krankheit Johann Sebastian Bachs hat sich bereits herumgesprochen, und im selben Gasthaus "Drey Schwanen", das als Operationssaal diente, trafen sich im Juni 1749 der Dresdner Kapellmeister Johann Gottlob Harrer und der Leipziger Rat. Harrer hat ein Empfehlungsschreiben seines Grafen dabei, der ihn für das Amt des Thomaskantors empfiehlt, sollte Bach nicht wieder zu Kräften kommen. Nach dem Probespiel des Kapellmeisters ist die Nachfolge geregelt. Takt und Feingefühl dem jetzigen Thomaskantor gegenüber ist bei der schnellen Entscheidung nicht unbedingt zu erkennen.
Die Operation verläuft nicht erfolgreich. Als Taylor Anfang April 1750 wieder nach Leipzig kommt und seinen Patient untersucht, muss er feststellen, dass sich die trübe Linse zurück in die Pupille geschoben hat. Er operiert ein zweites Mal. Fast vier Monate erträgt Bach die Schmerzen und das fehlende Tageslicht. Am 18. Juli befreit er von der störenden Augenbinde - und kann wieder sehen!
Aber am gleichen Tag trifft ihn ein Schlaganfall. Zehn Tage lang liegt er mit starkem Fieber im Bett, betreut von zwei Leipziger Ärzten und umsorgt von seiner Frau und seinen Kindern. Doch es ist ihm nicht zu helfen. Eventuell ist der Kantor zuckerkrank, was 1750 weder erkannt noch behandelt werden kann. Am Abend des 28. Juli 1750 - gegen 8 Uhr - schließt Johann Sebastian Bach für immer die Augen ohne nochmals zu klarem Bewusstsein gekommen zu sein.
21. März 1685 - 28. Juli 1750
Am 30. Juli 1750 lautet der Eintrag im Totengräberbuch:
Ein Mann 67. Jahr Herr Johann Sebastian Bach, CapellMeister und Cantor der Schulen zu St. Thomas, auf der Thomas Schule, st. männliche. 4. unmündige Kinder, Leichen Wagen gratis.
Aus unbekannten Gründen hat der Verstorbene kein Testament hinterlassen. Der Witwe Anna Magdalena steht ein Drittel des Vermögens zu, sie muss damit drei Kinder versorgen: die unverheiratete Catharina Dorothea und die beiden jüngsten Töchter Johann Carolina (13) und Regina Susanna (8). Der Rat gestattet ihr die Vormundschaft über ihre Kinder nur unter der Bedingung, dass sie nicht wieder heiratet. Sie muss bis an ihr Lebensende von den Almosen anderer Leute leben.
Die Beisetzung des Komponisten findet als "großes Begräbnis" statt, bei der die ganze Schule ihrem Thomaskantor die letzte Ehre erweist. In den Leipziger Kirchen wird bekanntgegeben:
Es ist in Gott sanft und selig entschlafen der wohledle und hochachtbare Herr Johann Sebastian Bach, Seiner Königlichen Majestät in Polen und Churfürstlichen Durchlaucht zu Sachsen Hofkomponist wie auch Hochfürstlich Anhalt Köthenscher Kapellmeister und Cantor der Schule zu St. Thomae allhier am Thomas-Kirchhofe. Dessen entseelter Leichnam ist heutigen Tages Christlichen Gebrauch nach zur Erden bestattet worden.
Johann Sebastian Bach wird auf dem Friedhof der Johanniskirche bestattet. Einen Grabstein kann sich die Familie nicht leisten. Und schon ein halbes Jahrhundert später wird man den genauen Ort des Grabs vergessen haben. Als 1894 die Johanniskirche erweitert wird, findet man drei Eichensärge. Man erinnert sich, dass einer die Gebeine des großen Bach enthält und bestattet seine sterblichen Überreste in der Krypta der Johanniskirche. Im Jahr 1950 wird der Sarg erneut umgebettet, in den Chorraum der Thomaskirche - die Wirkstätte des Kantors.
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